Artgerechte Tierhaltung
Kapitel

Definition
Grundlagen der Tierhaltung
Indikatoren für das Wohlbefinden
Definition

Das Tierschutzgesetz schreibt nach §2 vor:
Wer ein Tier hält, betreut oder zu betreuen hat,
- muss das Tier seiner Art und seinen Bedürfnissen entsprechend angemessen ernähren, pflegen und verhaltensgerecht unterbringen,
- darf die Möglichkeit des Tieres zu artgemäßer Bewegung nicht so einschränken, dass ihm Schmerzen oder vermeidbare Leiden oder Schäden zugefügt werden,
- muss über die für eine angemessene Ernährung, Pflege und verhaltensgerechte Unterbringung des Tieres erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen.
Der Begriff "artgerecht/artgemäß" wird häufig verwendet, wenn es um Tiere und deren Haltung geht. Was aber ist darunter zu verstehen?
"Artgemäß ist eine Haltung dann, wenn sich nach den Regeln der tierärztlichen Kunst oder nach anderen naturwissenschaftlichen Kenntnissen keine gestörten körperlichen Funktionen, die auf Mängel oder Fehler in der Ernährung und Pflege zurückgeführt werden können, feststellen lassen."
Tschanz 1984
"Artgerecht/artgemäß" impliziert, dass die Bedürfnisse innerhalb einer Art so zusammengefasst werden können, dass daraus ein Schema zur Haltung dieser Tierart in Gefangenschaft abgeleitet werden könnte. Allerdings besteht schon eine Schwierigkeit, den Begriff "Art" zu definieren. Bei Tierarten handelt es sich nicht zwangsläufig um natürliche Einheiten, sondern um künstliche Sortierkategorien.
Zudem gibt es innerhalb einer Art ein großes Spektrum an individuellen Verhaltensweisen und Bedürfnissen sowie zahlreiche Variationsursachen, welche die Bedürfnislage der Tiere beeinflussen (Sundrum 1998). Tiere einer Art besitzen zwar ein ähnliches, jedoch nicht völlig übereinstimmendes Verhaltensinventar (Unshelm 1991). So berücksichtigt beispielsweise der Begriff "artgerecht/artgemäß" die Besonderheiten der
domestizierten Haustierrassen gegenüber den artgleichen Wildtieren nur ungenügend (Tschanz 1984).
Ein Beispiel hierfür ist der Wolf (Canis lupus). Wölfe besiedeln die unterschiedlichsten Habitate, von der arktischen Tundra bis zu den Wüsten Nordamerikas und Zentralasiens. Wölfe findet man nicht nur als Wildtiere, sondern auch als domestizierte Haustiere (Haushund) und wieder verwildert (Beispiel Dingo). Die verschiedenen Formen sind entsprechend an ihre Umwelt angepasst. Der Art in einem gerecht zu werden ist also schwierig, da verschiedene Ansprüche an die Umwelt gestellt werden. Daher ist der Begriff "artgerecht" nicht ausreichend um eine vernüftige Haltung eines Tieres zu beschreiben und damit zu gewährleisten.
Neben "artgerecht" werden heute die Begriffe "verhaltensgerecht" und "altersgerecht" verwendet. Alle diese Begriffe werden als "tiergerecht" zusammengefasst (Tschanz 1984). "Tiergerecht" ist eine Haltung, die den individuellen Bedürfnissen der Tiere gerecht werden und dem Tier eine dem Wesen angemessene Behandlung zuteil kommen lässt (Sundrum 1998).
Wer definiert, was tiergerecht ist? Hierfür werden drei verschiedene Kategorien verwendet:
1. Biologische Funktionen
- Verletzungen
- Krankheiten
- Pathopysiologische Veränderungen (chronischer Stress)
- Pathologische Verhaltensstörungen
- Leistung (Wachstum, Produktion, Reproduktion)
2. Empfindungen
- Schmerzreaktionen (Verhalten, Physiologie)
- Frustrationsreaktionen
- Verhaltensanomalien
3. natürliche Verhaltensweisen
- Normalverhalten
- Präferenztests (Wahlversuche)
- Motivationstests
Grundlagen der Tierhaltung

Nach Tschanz (1984) muss eine tiergerechte Haltung die Reize bieten, die das Tier braucht, um sein arteigenes Verhalten entwickeln und einsetzen zu können.
Dabei stellt jedes Tier bestimmte Ansprüche an seinen Lebensraum. Es benötigt gewisse Vorraussetzungen, damit es einen bestimmten Lebensraum besiedeln kann. So hat ein Tier hat Bedürfnisse, die erfüllt werden müssen. Der Lebensraum in Gefangenschaft sollte daher den Ansprüchen eines Tieres genügen, seinen Bedürfnissen entsprechen und das natürliche Verhalten des Tieres fordern und fördern.
Nach Döring (1999) besteht ein Problem bei der Tierhaltung in den beschränkten Wahlmöglichkeiten. Viele Tiere haben beispielsweise keine Möglichkeit sich für verschiedene Umgebungstemperaturen zu entscheiden. Der Verlust der Wahlmöglichkeit kann zu Stress führen und das Wohlergehen der Tiere beinträchtigen. Daher muss ein Tier die Möglichkeit haben seine Lebensbedingungen zu beeinflussen.
Um den individuellen Ansprüchen eines Tieres an seine Haltungsumwelt gerecht zu werden müssen Faktoren wie beispielsweise genetische Herkunft, Aufzuchtsbedingungen, Geschlecht, Alter, Größe und Leistungsniveau berücksichtigt werden (Sundrum et al. 1999).
Nach Schrader kann die Tiergerechtheit einer Haltung nach folgenden Kriterien beurteilt werden:
- Aufrechterhaltung der biologischen Funktionen: Gesundheit, Wachstum, Leistung
- Vermeidung negativer Empfindungen: Schmerz, Leiden, Angst
- Keine Einschränkung (essentieller) natürlicher Verhaltensweisen
Nach dem britische Tierschutz- Ethologe Dr. Trevor Poole lassen sich die Bedürfnisse und Ansprüche eines Tieres an seinen Lebensraum in vier grundlegende Forderungen unterteilen:
- Sicherheit: Versteckmöglichkeiten, Schutz vor Umwelteinflüssen, eine geregelte Versorgung etc.
- Komplexität: Bewegungsmöglichkeit, strukturelle Gestaltung (z.B. Aussichtsmöglichkeiten), Sozialbeziehungen etc.
- Erfolgserlebnisse: Das heißt die Tiere sollten, sei es bei Futtererwerb, Nistbau, Sozialen Kontakten oder ähnlichem einen selbst erarbeiteten Belohnungseffekt erreichen können.
- Neuigkeiten: Es sollten immer wieder neue Anreize geboten werden
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Abbildung 1: Komplexe Ansprüche. Lebensqualität zu schaffen bedeutet, die Bedürfnisse des einzelnen Individuums zu berücksichtigen und die Komplexität der Ansprüche zu beachten. Eine hohe Lebensqualität ist nur zu erreichen, wenn alle Aspekte berücksichtigt werden. Vorstellen kann man sich das Ganze wie ein Haus, dessen Säulen sich aus verschiedenen Steinen (hier nur einige Beispiele) zusammensetzen. Das Haus benötigt alle Säulen, um überhaupt zu stehen und jede muss ausreichend Beachtung finden, damit das Haus nicht schief und krumm wird. So hat ein Kaninchen wenig von Artgenossen, wenn andere Bedingungen wie Rückzugsmöglichkeiten und Platz nicht erfüllt sind. Von viel Platz hat ein Kaninchen nichts, wenn die Anreize zur Erkundung und Bewegung fehlen. Um ein Kaninchen artgerecht zu halten braucht es daher ausreichende Kenntnisse und Einfühlungsvermögen des Halters.
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Nach Wille (2010) müssen die Bedürfnisse aus jedem einzelnen Funktionskreis (z.B. Ruhe, Bewegung, Sozialverhalten) in der Tierhaltung befriedigt werden können, ein optimal ausgestatteter Funktionskreis kann den Mangel eines anderen nicht ausgleichen.
Als Vorbild der Gehegegestaltung kann es sinnvoll sein, sich am natürlichen Lebensraum der vorkommenden Wildtierart zu orientieren. Es müssen allerdings spezifische Besonderheiten berücksichtigt werden. Nicht überall, wo eine Art vorkommt handelt es sich um ein ideales Habitat, welches als sinnvolles Vorbild für die Haustierhaltung verwendet werden kann. Es muss immer berücksichtigt werden, dass es sich bei Tieren um Individuen handelt, die auch individuelle Ansprüche an ihre Umgebung stellen können. Eine möglichst "naturnahe" Haltung anzustreben ist daher nicht unbedingt sinnvoll. Bislang sind die Kenntnisse über die Natur und das Leben der Tiere vergleichsweise mangelhaft, so dass häufig falsche Schlussfolgerungen gezogen werden. Ziel einer Haltung sollte es daher nicht sein, zu versuchen die Natur nachzuahmen, sondern den Bedürfnissen der Tiere gerecht zu werden.
Nach Döring (1999) muss eine Haltung nicht natürlich aussehen, entscheidend ist dass sie die entscheidenden Strukturen beinhalten, die das arttypische Verhalten auslösen und steuern. So ist es beispielsweise notwendig dass der Raum in vom Tier wahrnehmbare und nutzbare Funktionsbereiche untergliedert wird. Auch ist ein gewisses Maß an Ungewissheit und Variabilität sowie die Möglichkeit zum Sammeln von Informationen notwendig. Ebenso sind Bewegungsmöglichkeiten unerlässlich.
Beim notwendigen Platzbedarf ist dabei zu beachten, dass Raum für das Ausführen von Verhalten nötig ist, weshalb die benötigte Fläche von vielen Faktoren wie beispielsweise dem Verhaltenrepertoire abhängig ist.